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Ausstellung, wie wohnen - heute? 02-200x.jpg © Jörg Lange
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Ausstellung, Buch: Architektur Galerie am Weissenhof
Stadt: Stuttgart, Deutschland
Datum: 01 / 2002
Bildrechte: Jörg Lange, Wilfried Dechau

Ausstellung, wie wohnen - heute?: Immer und überall

Wir leben heute in einer sich permanent wandelnden Gesellschaft, die durch Verdichtung bei gleichzeitiger Ausdehnung gekennzeichnet ist. Zeit und Raum werden im „Immer und Überall“ intensiver besetzt1. Das „Immer“ steht für die Verdichtung der Zeit durch Aktivität, das „Überall“ für die Ausdehnung der Mobilität. Daraus resultiert eine Erweiterung der Möglichkeiten im Raum–Zeit-Gefüge, verbunden mit der Auflösung vorhandener Grenzen und der Ablösung der Eindeutigkeit durch die Mehrdeutigkeit. Betroffen sind unsere Lebensweise sowie die uns umgebende Objektwelt - im öffentlichen wie im privaten Raum. Wir verlassen die starren Bindungen vertrauter Milieus und wechseln zwischen verschiedenen Arbeitswelten. Unsere Alltagsprodukte zeichnen sich durch beschleunigte Reaktionen auf veränderte Verbraucherwünsche aus und bedienen immer komplexerer Nutzungsanforderungen. Jeder will heute mehr: wir wünschen die simultane Verfügbarkeit verschiedener Dinge in einer Situation und genießen die Freiheit der Entscheidung.

Entweder oder

Der klassische architektonische Entwurfsprozess ist dagegen zuallererst ein Vereinfachungsmodell. Es geht dabei um Ausdünnung anstatt Anreicherung: die eine Situation wird von einer anderen unterschieden und schließlich die scheinbar bessere vorgezogen. Varianten dienen dazu, das Optimum zu ermitteln. Es geht um die Festschreibung eines bindenden Zustands: „Entweder oder“ ist das Prinzip, Optimierung steht der Option im Wege.

Sowohl als auch

In der Architektur des „sowohl als auch“ geht es um die Komplexität des Wohnens durch die Verfügbarkeit unterschiedlicher Räume an einem Ort. Wir beschäftigen uns mit dem “Wandelbaren” und wollen die Grenzen des klassischen Raums mit seinen „gefrorenen Formen und Nutzungen“ auflösen. So stellen wir ein vielschichtiges Angebot zur Verfügung, damit sich die Vielfalt, die Widersprüche und die Mehrdeutigkeiten des sozialen Lebens im Wohnen widerspiegeln können. Wir sind gegen den Purismus der ästhetischen Einengung und wollen eine Architektur der Benutzer, nicht die einer finalen Form. Unser Ziel ist ein Raum der Montage, der vom Benutzer formbar ist und der nach Belieben von einem zum anderen Zustand wechseln kann. Wir sind daher an einer optionalen Architektur der Dynamik und Evolution interessiert.

Wohnen ist niemals fertig

Die Architektur entwirft die Wohnung auf ihren Endzustand hin. Die Wohnung ist aber kein ästhetisches Objekt der Bewunderung oder symbolischer Repräsentation, sie ist tägliches Instrument für die Belebung/Behausung des Raums, ist Katalysator für Handlungsmöglichkeiten. Unsere Projekte schreiben selten eine klare Raum- oder Organisationsfolge vor, sondern bieten ein funktional wie auch formal offenes System. Für uns ist es das „Unfertige“, das dem Bewohner die Gesamtheit erst ermöglicht. Wir wollen einen Wohnraum, der über das Ergebnis des konstruierten Objekts hinausgeht, der das Potenzielle mit einschließt und auf Bereiche außerhalb der eigenen Existenz abzielt. Am Ende der Architektur steht für uns ein Beginn. Nach Alain Guiheux gibt es zwei Architekturen: „solche die ihre Qualität aus physischen Realität ableiten und diejenigen, die ihre Qualität daraus ableiten, was sie ermöglichen.“2 Solche dieUnsere Projekte schreiben selten eine klare Raum- oder Organisationsfolge vor, sondern bieten ein funktional und auch formal offenes System. Wohnen ist niemals fertig. Die aktuelle Handlung im Raum definiert

Optionale Räume

Raum ist für uns beides: Hülle und Zwischenraum. Die Hülle determiniert Funktion und Stimmung - mit ihr fixieren wir technische und raumbildende Infrastrukturen, welche die Möglichkeiten im Zwischenraum unterstützen. Die Elastizität der Hülle macht das quantitative Verhältnis angrenzender Räume zueinander variabel. Die temporäre Auflösung der Außenhülle schafft einen ambivalenten Raum sinnlicher Innen- und Außenerfahrung. Der Zwischenraum gehört dem Benutzer und ist dynamisch, flexible Zone. Er ist ein „transaktionaler“ Raum, in dem sich die Beziehungen zwischen benutzter Hülle und Bewohner über einen Zeitablauf in ständiger Rückkopplung befinden3. In unseren Wohnprojekten geht es um die “optionale” Nutzung. Wir entwerfen Handlungsspielräume zur Aneignung und Anpassung des Zwischenraums. In allen Projekten versuchen wir, die übliche Verknüpfungsfixierung von Raum, Funktion und formaler Aussage bzw. Objekt und Gebrauch durch neue unerwartete Kombinationen von Teilen des Wohnraums aufzubrechen und in Bewegung zu bringen. Es geht darum, das Monotone, das Alltägliche, die funktionale Gebundenheit und die fixierten Erwartungen ans Wohnen zu verhindern. Durch die Verankerung der Option fordert der gleiche Raum zu neuer oder anderer Nutzung auf. Wohnen soll vom Benutzer immer wieder neu erfahren werden. Psychologisch bedeutet das Optionsmodell für den Benutzer eine Befreiung. Ein offener Raum beinhaltet das Potenzial vielfältiger Aktionen. Entscheidend ist nicht allein die ständige, tatsächliche Nutzung der Optionen, sondern die Gelassenheit, die entsteht, wenn man potenzielle Variationsmöglichkeiten besitzt. Zugleich fördert der optionale Raum eine distanzlose Beziehung zwischen Architektur und Nutzer. Wer sein Haus hin und her schieben kann, verliert die devote Haltung vor der Ästhetik seines Eigenheims und erlebt eine Sinnlichkeit des Gebrauchs, die nicht nur nützt, sondern auch Spaß macht. Der Entwurf von Wohnen ist für uns eine Gratwanderung zwischen Offenheit und Fixierung. Zuerst ist der Entwurf die exakte Widerspiegelung aller Ansprüche und Zwänge der Aufgabe. Klare Aussagen müssen getroffen werden. Die Ansprüche der Nutzer an Wohnen befinden sich jedoch im ständigen Wandel: die Zielgruppe wächst oder schrumpft im Laufe der Zeit. Raumfolgen ändern sich mit Nutzungsveränderungen. Unklare Ansprüche während der Planungsphase erfordern ein Offenhalten der Grundrissform über die Fertigstellung hinaus, damit das Ausprobieren der endgültigen Lösung in der Bezugsphase möglich wird. Der Wohnraum muss lang- oder kurzfristige Variablen beinhalten. Veränderungen im Wohnraum sind für uns jedoch kein neurotisches „Non–Stop“ einer zusammenhangslosen Beschleunigungsgesellschaft, die keinen Anfang und kein Ende mehr kennt. Wir schlagen für jede Option einen möglichen “Rhythmus” vor: Jahreszeiten, Temperaturwechsel, Tag/Nacht-Wechsel, oder wir entwickeln mittelfristige Zyklen für Ortswechsel, Atmosphären- oder Funktionswandel. Dabei stellt Rhythmus für den Benutzer ein vertrautes Verhältnis zwischen Raum und Zeit her. Weil die Intervalle der Veränderung erklärbar bleiben, vermittelt er innerhalb der Wandelbarkeit das Gefühl von Konstanz. Der Rhythmus ist die Restrukturierung des räumlich entstrukturienten Raums durch die Zeit und die zyklische Zeit übernimmt den notwendigen Orientierungsmaßstab im befreiten, hierarchielosen Raum. Dieser Orientierungsmaßstab ist Ordnung und freier Fluss zugleich.

Wahrnehmungsräume

Wir lehnen neutrale Strukturen zur Erzeugung variabler Nutzungen ab. Diese führen zur Auflösung wahrnehmbarer Differenzen durch Gleichförmigkeit – und laut Richard Sennett - zur Monotonie unserer Städte in der Austauschbarkeit, Flexibilität ermöglicht.4 Wir wollen Räume, die konkrete Atmosphären schaffen und trotzdem Wandelbarkeit zulassen. Der Philosoph Gernot Böhme beschreibt in seinem Buch „Anmutungen - Über das Atmosphärische“5, dass wir in einem Raum zuerst seine Atmosphäre bemerken, bevor wir ihn morphologisch entschlüsselt haben. Die Wohnung ist nicht nur Aktionsfeld, sondern auch Behälter unterschiedlicher Atmosphären. Das Optionsmodell ist für uns in diesem Sinne nicht, wie in den 60-ern, nur das Angebot einer funktional objektiven Alternative, sondern zusätzlich das einer sich ändernden Erscheinung. Bei unseren Projekten geht es immer auch um die Frage, was sie erzeugen, denn Räume sind für uns Wahrnehmungsräume. Ein Wohnraum, der sich verwandelt, ist nicht sofort erklärbar. Er verliert seinen festlegenden Charakter, wird interpretierbar und erhält eine bildliche Tiefenwirkung. Für den Bewohner wird wahrgenommener, realer und möglicher zukünftiger Raum in der Vorstellung synthetisiert und in einen Schwebezustand visueller Mehrdeutigkeit überführt, der über das Reale hinausgeht. Sichtbarer und potentieller Raum verschmelzen, oder wie Jean Baudrillard sagt: „Ein gelungener Raum ist ein Raum, der jenseits der eigenen Realität existiert.“6

1 Karlheinz A. Geißler: Die Orientierung am Rhythmus; in: Zeit, Zeitverständnis in Wissenschaft und Lebenswelt; Rusterholz, Moser, Bern 1997
2 Alain Guiheux: Architecture Action, Sens&Tonka, Paris, 2002
3 Hans Joachim Harloff: Zur Grundlegung der Wohnpsychologie, Report Psychologie 5.1989
4 Richard Sennett: Interview mit Ralf Berhorst, Süddeutsche Zeitung, 4.4.2000
5 Gernot Böhme: Anmutungen - Über das Atmosphärische, Ed. Tertium, Ostfildern, 1998
6 Jean Baudrillard: Architektur: Wahrheit oder Radikalität, Literaturverlag Droschl, Graz 1999